In Österreich existierten während der NS-Zeit ca. 2000 Lager (KZ, AEL, KGF, ZA, DULAG etc.). Die Erforschung der Lagerlandschaft im ehemaligen Gau Tirol-Vorarlberg ist aus archäologischer Sicht erst im Entstehen. Um der undokumentierten Zerstörung der Lagerstandorte zuvorzukommen, ist deren exakte Verortung notwendig.
Durch die parzellengenaue Lokalisierung können in weiterer Folge potenzielle archäologische Fundzonen definiert werden, die als Grundlage für geophysikalische Untersuchungen und archäologische Grabungen dienen und/oder eine Unterschutzstellung der Bodendenkmale ermöglichen. Die digitalisierten und georeferenzierten Daten werden dafür mit den modernen Geodaten aus dem Rauminformationssystem TIRIS des Landes Tirol bzw. VOGIS des Landes Vorarlberg verknüpft.
Für die zeitliche und räumliche Rekonstruktion einzelner NS-Zwangsarbeitslager im Gau Tirol-Vorarlberg wurde ein Historisches GIS (Geografisches Informationssystem) erstellt, um unterschiedliche Quellengattungen in einer Datenbank zu bündeln, zu analysieren und planlich darzustellen. Dabei wird auf Primärquellen wie Pläne und Schriftquellen aus Archiven ebenso zurückgegriffen, wie auf historische Luftbilder, die im Zuge von Bombardierungen bzw. Aufklärungsflügen von Alliierten Kräften erstellt wurden. Weitere Informationen stammen von kriegs- und nachkriegszeitlichen Fotografien, Zeitzeugen und ortskundigen Chronisten. Die Bau- und Lagepläne der Zwangsarbeiterlager wurden digitalisiert und georeferenziert, d.h. die Daten wurden in das GIS über Referenzpunkte eingebettet. Alle verfügbaren Daten zu den Baracken – wie Typ, Größe, Anzahl und Funktion – wurden erfasst und überprüft. Bei einige Zwangsarbeiterlager ist auch die Nachnutzungsphase bis in die 1980er Jahre interessant. Bei der kritischen Untersuchung aller Informationen konnten auch Abweichungen zwischen den Planungsunterlagen in den Archiven und den realisierten Bauten festgestellt werden.
Kirchbichl, Tirol: „Polenlager“ (1939–1942) und „Lager am Wehr“ (1942–1945)
Im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zur Erweiterung des Innkraftwerks der TIWAG in Kirchbichl erstellte monumentGUT ab 2012 den Fachbeitrag Kulturgüter. 2013 und 2014 fanden archäologische Ausgrabungen beim „Lager am Wehr“ als Ausgleichsmaßnahme statt.
2014 folgte eine Magnetometer- und Bodenradarprospektion sowie 2016 eine archäologische Untersuchung im Bereich des „Polenlagers“. Beide Lager wurden im Rahmen des Kraftwerksbaus errichtet. Das „Polenlager“ bestand von Jänner 1939 bis September 1942. Das nachfolgende „Lager am Wehr“ diente von Herbst 1942 bis Kriegsende als Zwangsarbeiterlager. Teilen dieses Lagers bestanden als ziviles Wohnlager bis Anfang der 1970er-Jahre.
Die Lokalisierung der beiden Lager, Angaben zu Lagergröße und Barackentypen sowie weitere Informationen werden in Kürze vorgelegt:
Barbara Pöll, „… der Abbruch hat daher auf das sorgfältigste zu erfolgen …“ Die Zwangsarbeitslager in Kirchbichl und ihre Baracken. In: Das „Lager am Wehr“ und das „Polenlager“ beim Innkraftwerk in Kirchbichl, Tirol (archäologie aktuell 10, 2024).
Haiming/Oetz, Tirol: „Lager Beinkorb”, „Lager Amberg“ und „Lager Schlatt“
Das NS-zeitliche Großprojekt in Haiming und Oetz umfasst das Wasserkraftwerk „Ötz Unterstufe“ der Westtiroler Kraftwerke AG, den Windkanal „Baustelle Inn“ der Luftfahrtforschungsanstalt München und die geplante U-Verlagerung „Zitteraal“.
Ab 2014 fanden umfangreiche Geländebegehungen im Bereich der Zwangsarbeiterlager sowie der Relikte der Großbaustelle im Tiroler Oberland statt. Eine denkmalfachliche Prospektion und Inventarisation der ehemaligen Großbaustelle „Ötz-Unterstufe“ schloss 2017 an, die sämtliche Boden- und Baudenkmale des nie vollendeten Bauprojektes im Tiroler Oberland erfasste. Im gleichen Jahr fand im Zuge der Errichtung einer neuen Produktionsstätte der Handl Tyrol GmbH im Bereich der „Baustelleneinrichtung Haiming“ bzw. „Bauhof Innerebner & Mayer“ eine baubegleitende archäologische Grabung durch die Firma Ardis Archäologie statt.
2021 folgte die Publikation der Befunde und Funde der Ausgrabung unter Heranziehung schriftlicher und bildlicher Quellen.
Barbara Pöll, KG Haiming, OG Haiming, KG Ötz, OG Oetz, Mnr. 80101.17.02. In: FÖ 56, 2017, 455–457.
Barbara Pöll, Im Schatten des Amberg. Die archäologische Ausgrabung beim „Bauhof Innerebner“ am Handl Tyrol Areal in Haiming. In: Harald Stadler (Hrsg.), Der Bauhof Haiming 1941–45. Eine historisch-archäologische Dokumentation, Brixen 2021, 9–99.
Barbara Pöll, Wasserkraftwerk, Windkanal und „Zitteraal“: Geschichte und materielle Hinterlassenschaften einer NS-zeitlichen Großbaustelle in Haiming und Oetz, Tirol. In: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich (BMÖ), Beiheft xx/2024, im Druck.
Innsbruck, Tirol: „Lagerkomplex Reichenau“
Im Rahmen der geplanten Neugestaltung des Gedenkortes für die Opfer der NS-Lager in Innsbruck Reichenau wurde gemeinsam mit Barbara Hausmair (Institut für Archäologien, Universität Innsbruck) ein Historisches GIS erstellt. Der Lagerkomplex in der Reichenau umfasste das „Arbeitserziehungslager“ (AEL) der Gestapo sowie die Lager der Stadt Innsbruck, der Reichsbahn und der Reichspost.
Schwaz, Tirol: „Bauarbeiterlager“ (1944–1945) bzw. Entnazifizierungslager „Oradour“ (1945–1948), „Kriegsgefangenenlager“ (1945) und „Massivbarackenlager“ (1944–1945).
1944 wurden in der Stadt Schwaz in Zusammenhang mit der Untertage-Verlagerung der Messerschmittwerke in die Stollen und Kavernen des Bergwerkes drei Zwangsarbeiterlager errichtet. Außerdem bestand ein „Russenlager“ beim Bahnhof Schwaz.
Barbara Pöll, Die zeitliche und räumliche Entwicklung der Lager in Schwaz, 2023.
Derzeit sind die fünf Lager beim Gerloskraftwerk der TIWAG und die zahlreichen Lager beim Rodundwerk und Obervermuntwerk der Illwerke in Vorarlberg in Arbeit.